Djurdjevic Architectes Djurdjevic Architectes

EN    FR

E10 Grand Genève et son sol

Verfahren: Konsultation mit Präqualifikation
Auftraggeber: Fondation Braillard Architectes
Zeitraum: 2018–20

ETH Zürich: Architecture of Territory
Prof. Milica Topalovic, Muriz Djurdjevic, Karoline Kostka, Ferdinand Pappenheim, Charlotte Schaeben, Jan Westerheide
University of Luxembourg: Master in Architecture
Prof. Florian Hertweck, Dragos-Lulian Ghioca, Markus Hesse, Nikos Katsikis, Minos Leners, and Ivonne Weichold
Raumbureau A+U
Giacomo Ambrosini, Rolf Jenni, and Tom Weiss


Eine Charta für den sozial-ökologischen Übergang

Die Stadt Genf und ihre Region stellten schon immer ein vielfältiges Gebiet dar, in dem Gegensätze als solche wahrgenommen werden - schweizerisch-französische, protestantisch-katholische, internationale-lokale und städtisch-ländliche Qualitäten und Bedingungen, die alle im Genfer Talkessel, der vom Jura und den Alpen eingerahmt wird, vereint sind. Heute steht die Region vor einer tiefgreifenden Entwicklungsherausforderung, da die Bevölkerung schnell wächst und eine starke Nachfrage nach Wohnraum besteht, die auch in Zukunft anhalten dürfte. Seit Jahrzehnten wächst die Stadt über die Landesgrenze hinaus. Das Stadtwachstum und der Landverbrauch im Kanton und im französischen Teil der Genfer Agglomeration üben weiterhin Druck auf die Wohngebiete aus und erodieren die Agrar- und Naturlandschaften.

Grand Genève 2050

Bereits 2008 formalisierten die französischen und schweizerischen Gemeinden rund um Genf einen zehnjährigen Prozess von Verhandlungen über Zusammenarbeit und Raumplanung, indem sie eine neue territoriale Einheit, den Grossraum Genf, gründeten. Zehn Jahre später, im Oktober 2018, versammelte die von der Stiftung Braillard Architectes initiierte öffentliche Konsultation Grand Genève 2050 sieben internationale und interdisziplinäre Teams um einen Auftrag, der darauf abzielte, Design- und Planungsvisionen für die Zukunft des Grossraums Genf vorzuschlagen, die auf der Notwendigkeit des "ökologischen Übergangs" basieren und mit den Grundsätzen der nachhaltigen Entwicklung in Einklang stehen. Darüber hinaus verlangte die Aufgabenstellung des Wettbewerbs, Entwurfs- und Planungsstrategien nicht nur für die Stadt Genf, sondern für die gesamte Region vorzuschlagen, um die daraus resultierende wachsende soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen. In diesem Rahmen erarbeiteten das Team der ETH Zürich Architecture of Territory, der Master in Architecture der UNI Luxemburg und Raumbureau A+U Grand Genève et son sol, eine territoriale Strategie für eine autarker und polyzentrischer gestaltete grenzüberschreitende Region.

Wir stellten uns folgende Frage: Wie kann Design dazu beitragen, zwischen den verschiedenen grenzüberschreitenden Interessen und Governance-Vereinbarungen zu vermitteln und so grenzüberschreitende Lösungen zu fördern? Wie kann eine gemeinsame Vision und ein gemeinsames Projekt für die Region definiert werden, das über stadtzentrierte Designs und über die Staatsgrenze hinausgeht? Könnte ein neuer Ansatz für die Regionalplanung darüber hinaus der Dringlichkeit sozialer und ökologischer "Übergänge" angesichts der Klimakrise und des Verlusts der biologischen Vielfalt gerecht werden?

Die Natur zurück in die Stadt bringen

Unsere Perspektive für den Grossraum Genf nähert sich der Dringlichkeit des sozial-ökologischen Übergangs über die Problematik des Landes, das in seinen vielfältigen Ausdrucksformen verstanden wird - als ökologische Struktur, als angeeignetes und reguliertes Territorium und als symbolische Landschaft für bestimmte Orte und Identitäten. Die zentrale Annahme ist, dass die derzeit asymmetrische Region in eine gerechtere, ökologisch ausgewogene und polyzentrische Stadtlandschaft umgewandelt werden sollte, in der bebaute und unbebaute Umgebungen in all ihrer Vielfalt produktiv miteinander verflochten sind. In dieser Hinsicht wird eine erfolgreiche grenzüberschreitende Governance von entscheidender Bedeutung sein.

Urbane Strategien

Wir planen eine entschlossene Anstrengung hin zu einer neuen Ausgangslage für den sozial-ökologischen Übergang, die auf der Überprüfung der derzeitigen Eigentums- und Regierungsvereinbarungen auf allen Ebenen durch die Idee der Gemeingüter beruht: weg von Individualismus und Renten in der Landwirtschaft, im Immobiliensektor, im Transportwesen und in anderen städtischen Bereichen hin zur Entwicklung und Förderung gemeinsamer und kooperativer Regierungsvereinbarungen und -modelle. Die Perspektive des Grossraums Genf ist in Form einer Charta organisiert, die auf zwei Achsen funktioniert. Die erste Achse entwickelt fünf Sätze urbaner Strategien: Naturstadt: Schutz natürlicher Gebiete und Ressourcen; Agrarstadt: Förderung der Regionalisierung des Ernährungssystems nach den Prinzipien der Agrarökologie; Nachbarschaftsstadt: Entwicklung von Strategien für die Dezentralisierung von Dienstleistungen und Arbeitsmöglichkeiten in der gesamten Region; Geteilte Stadt: Schaffung von Präzedenzfällen für neue gemeinschaftliche und kollektive Praktiken; und Zyklische Stadt: Definition von Ansätzen für die Zirkularität von Material- und Energieflüssen. Diese urbanen Strategien können auf verschiedenen Massstabsebenen eingesetzt werden, von der regionalen und städtischen bis hin zur architektonischen Ebene.

Territorium und Potential

Im zweiten Schwerpunkt der Charta werden sieben Potenzialgebiete in der Region beschrieben, die als Grundlage für zukünftige Entscheidungen in der Raumplanung dienen sollten. Bebautes und unbebautes Land in der gesamten Region sollte aufeinander abgestimmt und zusätzlicher Wettbewerb zwischen den Landnutzungen vermieden werden. Das Reframing der Landnutzungsfragen geht auf die spezifischen Potenziale und Probleme des Grossraums Genf ein, von der Regenerierung und Modernisierung veralteter fossiler Infrastrukturen bis hin zum Verlust wertvoller landwirtschaftlicher Flächen für Bauvorhaben, insbesondere im französischen Genevois. Die sieben Potenzialgebiete sind: Binationale Metropole, Global-lokale Territorien, Postfossile Infrastrukturen, Agro-Landschaftsräume, Metropolitan Campaigns, Vitale Bäche und Kronendächer und Bergparks. Hervorgegangen aus zahlreichen Feldexpeditionen mit Studierenden in der Region seit 2016, wurden die Potenzialgebiete durch eine städtebauliche und kartografische Analyse und Synthese erarbeitet. Die Charta bietet ausserdem eine programmatische Skizze mit Gestaltungs- und Governance-Agenden auf verschiedenen Ebenen sowie über dreißig Gestaltungsfallstudien für verschiedene Standorte in der Region. So wird eine neue urbane Figur möglich, die Bedürfnisse sowie soziale und ökologische Qualitäten ausbalanciert.

Die neue urbane Figur - in der Tat ein neuer Typ von Stadtlandschaft, der auf regionaler Ebene entsteht - löst die Dichotomie von Zentrum und Peripherie auf und formt eine gerechtere, polyzentrische, selbsttragende und regenerative Landschaft. Im Gegensatz zu einem Masterplan sind die vorgeschlagenen territorialen Strategien flexibel und in der Lage, auf verschiedene und unvorhersehbare Szenarien von Wachstum und Schrumpfung zu reagieren. Während die Außengrenzen der künftigen Stadtregion von der Silhouette des Genfer Beckens begrenzt würden, würde ihre Entwicklung im Inneren, in der Figur, stattfinden. In einem kontinuierlichen Dialog zwischen Bürgern, Verwaltungen, politischen Gremien, internationalen Institutionen wie den Vereinten Nationen und CERN sowie Vertretern der Wirtschaft und Bürgerbewegungen können die Strategien der Charta verräumlicht und konkretisiert werden, wodurch der Grossraum Genf zu einem europäischen Vorreiter auf dem Weg zu einer nachhaltigen, emissionsfreien und widerstandsfähigen Metropole wird.